
Die Zweite Wiener Türkenbelagerung gehört heute nicht mehr zu den als prägend empfundenen Ereignissen der österreichischen Geschichte, wie der Wiener Historiker Peter Rauscher im Jahr 2010 in seinem wissenschaftlichen Aufsatz „Die Erinnerung an den Erbfeind. Die ‚Zweite Türkenbelagerung‘ Wiens 1683 im öffentlichen Bewusstsein Österreichs im 19. und 20. Jahrhundert“ festgestellt hat. Diese Vernebelung der Erinnerung war offenbar schon in Baden bei Wien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Gange: Der Lyriker und Lokalhistoriker Hermann Rollett (1819–1902), ein Sohn des Sammlungsgründers Anton Rollett (1778–1842) und von 1876 bis zu seinem Lebensende Stadtarchivar und Leiter des Rollettmuseums in Baden, monierte in seinen lokalhistorischen und populärwissenschaftlichen Veröffentlichung regelmäßig eben dieses Vergessen. Das erklärt, warum die Belagerung von 1683 ein besonderes Anliegen seiner lyrischen und museumspädagogischen Vermittlung in Bezug auf die Stadtgeschichte Badens darstellten.
Glanzstück dieser Vermittlungsarbeit im Dienste des kollektiven Gedächtnisses der Badener Bürger bildet das sogenannte blutige Fenster, das auch heute noch in der stadtgeschichtlichen Abteilung des Rollett-Museums zu sehen ist. Im 1. Band seiner „Beiträge zur Chronik der Stadt Baden bei Wien“ (1880) vermerkt Rollett dazu: „Der Sohn des bereits im ersten Viertel des 17. Jahrh. aus Savoyen nach Baden gekommene Anselm Rollett, der Rothgäberei[1]-Besitzer desselben Namens, wurde 1683 in dem noch heute bestehenden Stammhause der Familie (Gutenbrunner Schloßgasse, zum Anton von Padua, jetzt „Gutenbrunnerhof“) nach muthvoller Gegenwehr von den Türken niedergemacht, und die kleine Fensterscheibe, auf welche Blut vom abgeschnittenen Haupte desselben tropfte, ist ebenfalls noch heute (im städtischen Rollett-Museum), mit einem türkischen Reiter bemalt – zu dessem rothem Rock die Blutstelle verwendet wurde –, vorhanden.“
Selbstredend verfasste Rollett zu diesem Ausstellungsstück auch eine kleine Ode:
„…
Sie schnitten ihm ab das blutende Haupt.
Sein Kind wollt schützend es wehren,
Da lag auch des Mägdleins liebliches Haupt
Im Blute, trotz Tränen und Zehren.
Die Mörder zeigten die Häupter in Wuth
Durch’s Fenster den wilden Genossen.
Und sieh! Von den Häuptern ist’s warme Blut
An’s Glas des Fensters geflossen.
Die Fensterscheibe, die ward so roth
Vom niedergetropften Blute;
Und so blieb es – der Todesnoth
Zum Denkmal und kühnem Muthe.
Ein türkischer Reiter ward gemalt
Auf die blutig schimmernde Scheibe,
Auf daß die Unthat der wilden Gewalt
In steter Erinnerung bleibe …“
Als Beleg für dieses Vorkommnis verweist Hermann Rollett in seiner Chronik nicht nur auf seine eigenen Schriften, vorwiegend Artikel in lokalen Badener Zeitschriften, sondern auch auf die Publikation „Baden in Österreich, seine reichlichen Quellen und deren heilenden Kräfte, seine vorzüglichen Merkwürdigkeiten und malerischen Umgebungen“ seines Bruders, des Mediziners Carl Rollett (1805–1869) aus dem Jahr 1838. Dieser stellte den Sachverhalt anders, wenn auch kaum weniger nekrophil dar: „Anselm Rollett, Rothgärber in der Schloßgasse Nr. 29 zu Guttenbrunn bei Baden, durchreiste mit seinem Vater, einem Handelsmanne, mehrmals den Orient; da er desßhalb der türkischen Sprache mächtig war, und sich mit den Barbaren abzufinden glaubte, schickte er nur seine Familie in das Gebirg, und blieb selbst, seine Habe schützend, im Hause zurück. Als aber nach Abzug des Feindes die Armen zurück kamen, fanden sie den Leichnam des Vaters mit Wunden bedeckt sammt seinem treuen Hunde bei der Werkstätte liegen, wo sie selben auch begruben. Nach 120 Jahren, als eine Werkstattveränderung vorgenommen wurde, fanden die Enkel in dem Vorfinden von Knochenresten dieses als Opfer von den Türken gemordeten Ahnen die vererbte Sage bestätiget. Noch gegenwärtig unter dem sechsten Enkel ist der vordere Theil des Schädels an Ort und Stelle, wo er gefunden wurde, eingemauert. Der zurückkommende Sohn des Ermordeten ließ zum Andenken eine Glasscheibe mit einem reitenden Türken bemalen und in sein Fenster setzen, welche sechseckige Scheibe sich mehr denn 100 Jahre in demselben erhielt. Jetzt bewahrt sie mein Vater in seiner Sammlung; die Malerei ist gelungen und noch gut erhalten.“
Hier hat mehr als nur die dichterische Ader zugeschlagen, die aus einem abgeschlagenen blutenden Kopf gleich zwei macht – oder aus einem Hund ein Mägdelein; es handelt sich hier eindeutig um eine moderne Sage. Volkskundlicher Forschung zufolge dienen moderne Sagen dazu, Vorurteile und Angst auslösende Erfahrungen einer sozialen Gruppe durch ein Narrativ mit Wahrheitsanspruch bewältigbar zu machen. Sie tragen zur psychischen Entlastung und zur Lebensbewältigung bei.
Diese Salutogenese wollen wir Hermann Rollett nicht abstreiten, auch wenn er behauptete, dass die zweite Türkenbelagerung zu seiner Zeit bereits dem kollektiven Gedächtnis zu entschwinden begann. Wahrscheinlich war ihm aber die Gesundheit des von ihm in seiner politischen Dichtung gepriesenen Volkskörpers ebenso wichtig wie die Legitimierung seiner zwei Jahrhunderte zurückreichenden Familiengeschichte vor Ort – insbesondere in Anbetracht eines konkurrierenden Museumsvorhabens in Baden eines seiner ehemaligen Mitstreiter, das eine Zeitlang auch als Niederösterreichisches Landesmuseum angedacht war und das heute noch als Kaiser-Franz-Josef-Museum in Baden besteht. Schließlich sprechen auch der kurz zuvor erfolgte und erfolgreiche österreichisch-ungarische Okkupationsfeldzug in den osmanischen Provinzen Bosnien und Herzegowina im Jahr 1878 sowie das herannahende Gedenkjahr zur Zweiten Türkenbelagerung, 1883, gegen ein allgemeines Vergessen und für die Legitimierung und die identitätsstiftende Rolle, die der Museumsleiter und Stadtarchivar seiner Familie zugedachte. Das Prunkstück der Gedenk-Ausstellung des Jahres 1883 im Rollettmuseum in Baden bildete selbstverständlich das blutige Fenster, samt zugehöriger Ode.
[1] Bei der Rotgerberei – oder auch Lohgerberei – handelt es sich um eine spezialisierte Form der Gerberei, in der die von Fleischresten, Fett und Haaren befreiten Felle mittels einer gerbsäurehaltigen, aus Eichen- oder Fichtenrinde hergestellten Gerbbrühe (Lohe) bearbeitet werden. Die Lohe gibt dem Leder die typische rote bis braune Farbe. Rotgegerbtes Leder ist kaum elastisch, jedoch sehr strapazierfähig und haltbar, weshalb es für Schuhsohlen, Stiefel, Sättel o. ä. verwendet wurde.
Monieren ist so ein schönes Wort. Danke für die Wiederbelebung! Und natürlich auch für die Entdeckung dieses Fensters in die Vergangenheit