Auch ein Kunstsammler verliert ein Korn

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Weizenkorn mit Widmung von J. Sofer (Foto: C. Wawruschka)

Es mag die kleinste Widmung im Rollettmuseum in Baden sein. Aber sie verbirgt eine große Geschichte. Im Spendenverzeichnis des Museums findet sich ein Eintrag vom 26. Oktober 1884, nach dem „vom Bürgermeister Christallnigg ein Weizenkorn, mit von J. Sofer aus Rumänien in Kleinschriftkunst darauf ausgeführter, 32 Worte enthaltender Widmung“ übergeben wurde. Und tatsächlich befindet sich dieses kleine Weizenkorn noch heute im Museum, auch wenn es nicht ausgestellt ist. Die Widmung lautet „Sr. Wohlge. Herrn Eduard Perger Inhaber der Firma Perger & Co und Realitätenbesitzer in Baden Dem wahrhaft humanen Manne dem Kunstgönner und Wohlthäter widmet dies Kunstproduct ergeb. J. Sofer aus Bucaresz Rumänien Baden 1884“.

Der Kaufmann Eduard Perger (1847–1918) betätigte sich gemeinsam mit seinem Bruder Gustav Perger (1849–1898) in Baden als Kunstsammler und Mäzen. Die Städtischen Sammlungen im Rollettuseum verdanken ihm die berühmte biedermeierliche Bilderserie „Der Mensch und sein Beruf“, die aus 60 Blatt besteht, von denen 46 Original-Aquarelle, Feder- und Bleistiftzeichnungen sind, die als Vorlage der damals weit verbreiteten Lithographie-Serie dienten. Die Sammlung Eduard Pergers, die bildende Kunst des 19. Jahrhunderts zum Thema hatte und auch in Wien großes Ansehen genoss, wurde knapp zwei Jahrzehnte nach dessen Tod aufgelöst. In einer ersten Auktion wurden über 450 Werke, darunter gerahmte Gemälde und lose Blätter, im September 1930, nur etwas mehr als ein Jahrzehnt nach seinem Tod, in den Räumen der Kunsthandlung C. J. Wawra in einer eigenen Auktion versteigert. Weitere Teile der Sammlung Eduard Perger, insgesamt 51 Aquarelle und Handzeichnungen, darunter Werke von Johann Baptist Lampi dem Älteren (1782–1830) und Moritz von Schwind (1804–1871) kamen im Mai 1934 im Auktionshaus Albert Kende in Wien unter den Hammer; der ausgeschriebene Schätzwert betrug insgesamt 5630 Schilling.

Oskar Graf Christallnig (1831–1898), der Spender des Weizenkorns, war zur jener Zeit Bürgermeister in Baden bei Wien. Wie er an dieses beschriftete Weizenkorn kam, lässt sich nicht feststellen. Dies muss jedoch sehr bald nach dessen Übergabe von Herrn Sofer an Eduard Perger geschehen sein, wie sich aus einem Zeitungsartikel im Badener Bezirks-Blatt vom 19. Juli 1884 erschließt:

„In Baden weilt gegenwärtig der aus Rumänien gekommene Miniaturschreiber J. Sofer, welcher uns soeben Proben seiner Fertigkeit im Schreiben von kleinen Buchstaben erwies. Auf einem Weizenkorn ist ein über 300 Buchstaben enthaltendes Gebet befindlich, auf der nicht einem [sic!] messerrückenbreiten Kante einer Visitenkarte schreibt der Miniaturkünstler die 10–20 Zeilen umfassenden Biographien einzelner Personen, und hat Herr Sofer, welcher in der Gutenbrunnerstraße Nr. 6 wohnt und daselbst auch Freunden dieser graphischen Kunst seine Erzeugnisse zu zeigen bereit ist, von hohen Persönlichkeiten anerkennende Zuschriften erhalten. Auf einem Couvert hat er den Inhalt einer solchen in den Bogen eines Anfangsbuchstabens hineingeschrieben, und sieht dieser, mit freiem Auge betrachtet, wie mit einem leichten Schatten verziert aus.“

So können wir annehmen, dass Eduard Perger einer dieser Freunde der graphischen Kunst war und Herrn Sofer aus Bukarest, wahrscheinlich mit einer Geldsumme, unterstützt hat. Auch wenn die Kunstfertigkeit Herrn Sofers dem Badener Bezirks-Blatt eine Meldung wert war, so war Herrn Perger offenbar das ihm gewidmete und beschriftete Weizenkorn nicht die Aufnahme in seine Kunstsammlung wert.

Von J. Sofer finden sich mehrere Spuren zur Zeit der k. k. Monarchie, auch wenn sein Vorname ein Geheimnis bleibt: Im Frühjahr 1883 beschloss er offensichtlich, der Welt seine Kunst zu zeigen – wahrscheinlich, nachdem er vom König von Rumänien, Karl I., für seine Kunst mit der Medaille „Bene merenti“[*] ausgezeichnet worden ist. J. Sofer verschickte beschriebene Weizenkörner, eingepackt in kleine Glasröhrchen, wie das übrigens auch für das Badener Stück der Fall ist, an Redaktionen von Zeitschriften in Wien, die darüber berichteten – ebenso wie die die Wöchentlichen Anzeigen für das Fürstenthum Ratzeburg (die allerdings aus 309 Buchstaben 309 Worte machten, eine klassische Zeitungsente) in Mecklenburg-Vorpommern und die deutschsprachige Tageszeitung Indiana Tribüne in den USA: „Ein Mann namens J. Sofer legte ganz erstaunliche Proben seiner graphischen Kunst vor. Auf einem Weizenkorn war der ganze Psalm 45 (zusammen 394 Buchstaben) und auf den vier kaum messerrückenbreiten Kanten einer Visitenkarte das übliche Synagogengebet für das Wohl des kaiserlichen Hauses (360 Buchstaben) so zierlich und deutlich geschrieben, daß man vieles ohne sonderliche Anstrengung mit freiem Auge lesen konnte.“

Bei Psalm 45 handelt es sich übrigens um das einzige Beispiel für profane Lyrik im Tanach, das anlässlich der Hochzeit des Königs gedichtet und gesungen wurde; bei Bitt- und Dankgebeten in Synagogen zum Wohle des österreichischen Kaiserhauses wurden zumeist dieser Psalm rezitiert, was in diesem Fall auf eine Unkenntnis der Berichterstatter in Indiana schließen lässt.

Die Wiener Zeitschriften klären uns auch über die wieder in Mode gekommene „Miniatur-Kalligraphie“ auf: Auf den damals gebräuchlichen „Correspondenz-Karten“ versuchte man sich gegenseitig darin zu überbieten, möglichst lange Gedichte, wie etwa Schillers „Glocke“, immer noch leserlich in dem für die Mitteilung vorgesehenen Raum unterzubringen.

Zurück zu Herrn Sofer: Hat er sich im Jahr darauf, aufgrund seiner heimischen Auszeichnung und des positiven Feedbacks in den damals gängigen Medien des deutschsprachigen Raums, entschlossen, mit seiner Kunstfertigkeit auf Reisen zu gehen? Wie ist er nach Baden gekommen, damals die drittgrößte jüdische Gemeinde Österreichs? Im Mai 1886 hielt er sich jedenfalls in Wien auf und spendete dort im Rahmen der „Internationalen Ausstellung und Auction von Skizzen und Gemälden für Stryi und Lisko“ am 23. Mai 1886 (eine Sammlung für die Brandopfer dieser beiden heute in der Ukraine gelegenen Orte) im Künstlerhaus ein sogenanntes Schriftportrait von Kronprinz Rudolf, das aus über 40.000 Buchstaben bestand und Auszüge aus den Werken Rudolfs enthielt, wie beispielsweise des mehrbändigen Nachschlagewerks „Österreichisch-Ungarische Monarchie in Wort und Bild“ sowie der Monographie „Eine Orientreise“. Der Text war mit freiem Auge lesbar. Gekrönt wurde das Haupt des Thronanwärters von einem „alleinstehenden Haar am Scheitel“, das mit 34 Buchstaben die Worte „Österreichisch-ungarische Monarchie“ bildete. Für dieses Schriftportrait wurde J. Sofer mit der Medaille der Société des Agriculteurs de France ausgezeichnet und erhielt Dankschreiben vom König von Dänemark, dem Fürsten von Monaco und dem Sohn des Fürsten Bismarck.

Im November desselben Jahres ging dieses Portrait von Kronzprinz Rudolf in Druck und wurde in Wien vom Universal-Versandt-Bureau um einen Gulden pro Stück vertrieben. In der entsprechenden Werbeeinschaltung in der Wiener Sonn- und Montagszeitung wurde J. Sofer bereits als „belobter Wiener Miniaturschreibkünstler“ angeführt. Einer dieser Drucke ist heute noch im Wien Museum erhalten. Hatte J. Sofer seinen Lebensmittelpunkt daraufhin nach Wien verlegt?

Seine Spur führt weiter nach Paris, wo er im August 1891 den französischen Präsidenten traf, von dem er zuvor ebenfalls ein entsprechendes „Schriftportrait“ verfasst hatte – auch hier wird in der Berichterstattung des Radical ein Weizenkorn erwähnt, auf das er den Psalm Davis geschrieben hatte. Wie sich aus der Signatur „J. Sofer à Paris, 50 Rue de Rambuteau“ schließen lässt, stammt aus jener Zeit auch ein Doppel-„Schriftportrait“ der britischen Premierminister William Ewart Gladstone und Benjamin Disraeli, wobei die Texte in englischer Sprache gehalten sind. In der Folge verliert sich die Spur J. Sofers – bei den beiden gleichnamigen Bestatteten in der jüdischen Abteilung des Wiener Zentralfriedhofs kann es sich aufgrund der Sterbedaten nicht um ihn handeln. Lediglich im Katalog des Reichs-Postmuseums in Berlin von 1889 findet sich noch „ein mit mikroskopischer Schrift von Sofer in Wien bedecktes Weizenkorn“ mit der Inventarnummer 28, in einem weiteren Katalog des Kaiserlichen Historischen Museums in Moskau desselben Jahres ist ein „Schriftportrait des Zaren und des Präsidenten“ mit der Inventarnummer 4077 angeführt

Fest steht jedenfalls, dass der Miniaturschreiber Sofer aus Bukarest auch etymologisch seinem Namen alle Ehre gemacht hat. Denn das aus dem Hebräischen stammende Wort Sofer bedeutet Schreiber, zu dessen Beruf unter anderem die Beschriftung der Mesusot (Singular: Mesusa), kleiner am Türpfosten befestigten Kapseln, in denen sich eine kleine Schriftrolle mit einem in winziger Schrift gehaltenen Text aus der Tora befindet.


[*] Es handelt sich hier nicht um die gleichlautende päpstliche Medaille für haupt- und ehrenamtlichen Dienst der katholischen Kirche, sondern um eine im Jahr 1876 durch damals noch Fürst Karl I. von Rumänien gestiftete Auszeichnung zur Belohnung für Verdienste um Wissenschaft und Kunst in zwei Klassen, Gold und Silber.

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